Wie wir später resümierten, sollten wir liebenswerte Menschen, eine wunderschöne Stadt und eine, im Vergleich zu unserem Berufsalltag, ziemlich andere Art des Baumkletterns sowie der Baumpflege kennen lernen.
Lutz hatte Kontakt zu den russischen Kollegen und die Reise organisierte. Neben ihm und mir gehörten Jasper Bauer, ebenfalls Fachagrarwirt für Baumpflege und Baumsanierung, und Sayana Hoffmann, als Dolmetscherin zu unserer Gruppe.
Nach einem etwa zweistündigen Direktflug ab Hamburg warten wir, bepackt mit schweren Taschen für unsere Kletterausrüstungen und Werkzeug, am Eingang des Flughafens in St. Petersburg darauf, unseren Gastgeber, Anatolij Vobojev zu sehen, Anatolij wollte uns vom Flughafen abholen. Zum Glück machten weder die Fluggesellschaft noch der russische Zoll bei der Abfertigung unseres ungewöhnlichen Gepäcks Probleme. Aber nun standen wir dort und wirkten ein wenig verlassen. Anatolij war nirgends zu sehen. Wie sich später herausstellte, steckt er im Stau. Natürlich, denn in der ganzen Stadt Sankt Petersburg steckt der Verkehr zu dieser Zeit mehr oder weniger im Stau.
Sayanas Übersetzungsarbeit begann und wirkte hier wie ein Zauberschlüssel zu einer uns fremden und unbekannten Welt, und einer uns fremden Sprache. Mit der sonst in Europa üblichen englischen Sprache kommt man in Russland nicht weit...
Irgendwann entdeckten wir unseren Gastgeber und Kollegen Anatolij in der Menschenmenge.
Wir fahren in Anatolijs Baumpflegerbus durch den Stau in die riesige Stadt. Die Fassaden der historischen Gebäude, Plätze und Paläste sind größtenteils saniert, es ist unglaublich beeindruckend! Man nennt St. Petersburg auch das „Venedig des Nordens". Es ist neben Venedig die Stadt, mit den weltweit meisten von der UNESCO geschützten Denkmälern der Kultur- und Architekturgeschichte.
Ludmila und Mascha, Anatolijs Frau und Tochter, empfangen uns in ihrer Altbauwohnung mit einem großen Buffet. Wir werden fürstlich bewirtet und sind uns der großen Gastfreundschaft bewusst. Wir übergeben einige mitgebrachte Geschenke, unter anderen einen Lockjack und einen Ropeguide – hochwertiges Equipment für die Baumkletterei. Danach fahren wir in die für uns zur Verfügung gestellte Wohnung.
Nach einem reichhaltigen Frühstück machen wir uns am nächsten Morgen auf den Weg zur Arbeit. Wir fahren mit der Metro in einen Außenbezirk, dort sind wir mit Anatolij verabredet. Mit seinem „Baumpflegerbus“ geht `s weiter, entlang des Finnischen Meeresbusens, in die ausgedehnten Parkanlagen der ehemaligen Residenz der Gemahlin des Zaren Nikolaus I., Alexandria und Peterhof. Die Krautvegetation verrät den feuchten Standort. Unter den Baumarten sieht man viele Stieleichen. Die Vitalität der meisten Bäume ist etwas schlechter als bei uns. Aus einigen dieser Bäume soll das Totholz entnommen werden.
Anatolij sei ein strenger Chef, wie wir später noch einmal hören werden. Er besteht darauf, dass jeder, noch so dünne, trockene Zweig entfernt wird. Bei der Kronenpflege belassen wir zu Hause häufig Zweige von 1 bis 2 cm Durchmesser in den Kronen. Sie können, wenn sie herausfallen eigentlich keinen Schaden anrichten. Hier aber putzen wir die 4 Stieleichen ganz sauber. Eine vorsorgliche Einkürzung überlanger Äste hält Anatolij bei diesen Bäumen für nicht so wichtig und verzichtet darauf.
Als Jasper einen stärkeren Totast mit der Motorsäge entfernt, kommt es zur Diskussion. Wir sollen weiter zum Stamm sägen, also in den Astkragen hinein, stammparallel, wie man bei uns sagt. Die Erkenntnisse von Holzbiologen, z. B. Prof. W. Liese, Prof. D. Dujesiefken und Prof. A. L. Shigo über natürliche, baumeigene Schutzzonen im Astkragen sind Anatolij noch unbekannt.
Unsere Reise ist auch eine Reise in die Geschichte der Baumpflege und unseres Berufsstandes. Wie wir später weiter erkennen werden, gibt es in Sankt Petersburg noch eine handwerklich hoch entwickelte und tief verwurzelte Tradition der Baumchirurgie. Ebenso ein ausgeprägtes Bewusstsein bezüglich des Zierwertes „natürlich aussehender“ Bäume, die die teils riesigen historischen Parkanlagen schmücken.
Aber war es in Deutschland nicht ganz ähnlich? Bis die „Moderne Baumpflege“ Eingang in die technischen Regelwerke unserer Zunft fanden, vergingen viele Jahre der Auseinandersetzung. Sayana versucht nach bestem Verstehen zu übersetzen. „Neue Baumbiologie“ und „Hamburger Schnittmethode“ in 4 Minuten…
Sie versteht den Inhalt gar nicht - nein, das Thema wollen wir irgendwann später noch einmal mit Anatolij besprechen.
Unser Blick fällt auf einige Bäume in denen Kronensicherungen eingebaut sind. Sie sind Konstruktionen aus gespannte Stahlseilen und ca. 10 cm breiten Stahlstreifen, die über einem Gummischutz den Baum halbkreisförmig umschlingen. Da auch Seilspanner eingebaut sind, lässt sich das System wohl leicht nachregulieren. Auch die halbkreisförmigen Umschlingungen scheinen sehr dauerhaft zu sein, aber wie sind die Auswirkungen auf die Bäume?
Am nächsten Morgen treffen wir Viktor und Volodja aus Anatolijs Team. Sie arbeiten und klettern seit über 25 Jahren zusammen. Die Begegnung mit unseren sympathischen russischen Kollegen stimmt uns augenblicklich noch fröhlicher, als wir es ohnehin schon sind. Lutz demonstriert an einer toten Stieleiche, die gefällt werden soll, den Einsatz von Steigeisen. Dass die Verwendung von Steigeisen nur bei Fällungen zulässig ist, braucht Sayana nur mit den ersten Worten zu übersetzen, da winken die russischen Kollegen schon ab. Das sei wegen der zu erwartenden Verletzungen ja selbstverständlich!
Bei den Übersetzungen merken wir bald, dass die sprachliche Barriere aufgrund der gemeinsamen Erfahrungen mit Bäumen oftmals schwindet. Die Einzige, die wenig von den fachlichen Diskussionen versteht, ist Sayana, die aber trotzdem gut gelaunt, unverdrossen und routiniert ihre Arbeit macht.
Nun zeigen Viktor und Anatolij uns ihre Aufstiegstechniken. Anatolij hatte davon schon vorher berichtet. Als er uns vor 2 Tagen beobachtete, meinte er, unserer Methode, vom Boden aus in die Baumkronen zu gelangen, sei viel zu mühsam, die russische Technik wäre anwendbar, bis man alt sei…
Viktor besteigt mit Hilfe von zwei Strickleitern mit je 4 Sprossen eine Eiche. Dabei steht er jeweils auf der einen Strickleiter, während die zweite mit Hilfe eines Seiles mit Schnappkarabiner etwas höher würgend um den Baum geschlungen befestigt wird. Nach dem Erreichen der Krone klettert er, ähnlich wie wir es täten, hoch in die Krone, um den Ankerpunkt zu erreichen.
Auch beim Astschnitt führen die russischen Baumkletterer ihre Strickleitern mit und benutzen sie, an den Ästen hängend, als Tritte. Im Gegensatz zu uns treten sie dadurch weniger häufig direkt auf die Äste.
Wie wir später noch sehen sollten, können Viktor und Volodja mit ihrer Methode die Stämme auch schräger, dicker und knorpeliger Bäume sehr schnell besteigen. Bei einem kleinen Wettkampf unter Anwendung beider Aufstiegsmethoden müssen wir uns schon anstrengen um als Erste in der Oberkrone anzukommen. Bei Anwendung der Doppelseilklettertechnik verlieren wir zu Anfang manchmal wertvolle Minuten, da wir erst mittels eines Wurfbeutels eine Wurfschnur in der Krone platzieren, um daran das Aufstiegsseil einziehen zu können. Nur wenn der Wurfbeutel zielsicher mit den ersten Versuchen den ausgewählten Ankerpunkt treffen und alles passt, haben wir eine Chance…
Das russische Arbeitsklettern in den Kronen unterscheidet sich nicht allzu sehr von der Unseren. Die Sicherung am Kletterseil ist etwas anders. Die russischen Baumkletterer benutzen zwei übereinander angeordnete Klemmknoten („Prusik“). Einen aus einem dickeren Material und den zweiten, so zu sagen „Reserveknoten“, aus einem dünneren. Wir hingegen benutzen nur einen „Prusik“, mir erscheint dies jedoch nicht nachteilig zu sein.
Der zentrale Aufhängepunkt der russischen Klettergurte sitzt recht hoch, das macht das weite Herausklettern in die Kronenperipherie in mancher Situation etwas schwierig. Vielleicht deshalb setzen Viktor und Volodja beim Kronenschnitt oft die Stangensäge ein. Ich erkläre, dass unsere Auftraggeber bei Schnitten im Feinastbereich darauf achten, dass die richtigen Schnittwinkel eingehalten werden. Dieses ist mit der Stangensäge nicht immer einfach zu bewerkstelligen.
Lutz beschreibt den russischen Kollegen die noch relativ junge Geschichte der Baumkletterei in Deutschland und, dass die als Ergänzung, zum Hubsteigereinsatz entstanden sei, aber auch in einer gewissen Konkurrenz dazu stehe. Anatoly berichtet, dass Bergsteiger vor etwa 30 bis 40 Jahren damit begonnen hätten, Bäume zu beschneiden und so sei das Klettern bis heute die übliche Art, in die Bäume zu gelangen. In Russland werden Baumarbeiten im Allgemeinen nicht von Hubarbeitsbühnen aus erledigt.
Nach einem fröhlichen Abend, mit fachlichen Diskussionen und vielen interessanten Informationen über St. Petersburg und unser Gastland freuen wir uns auf eine erholsame Nacht.
Am nächsten Tag fahren wir auf einen historischen Friedhof am Alexander Nevsky Kloster, in der Altstadt, am Ufer der Newa. Hier liegen viele russische Berühmtheiten begraben, von Dostojewski bis Tschaikowski. Die Grabmahle sind kostbare Steinmetzearbeiten mit faszinierenden religiösen Ornamenten. Anatolij macht uns klar, dass es ihn viel Mühe gekostet hat, die langen Wege durch die russischen Bürokratie zu gehen, um eine Erlaubnis zu erhalten, mit uns an diesem besonderen Ort arbeiten zu dürfen.
Die Kletterausrüstung und die Werkzeuge in einem Rollkoffer hinter sich herziehend begrüßt uns nun auch Volodja aus einiger Entfernung lautstark mit einem „Donnerwetter noch mal“, dass „R“ stark gerollt ausgesprochen. Wir lachen. Volodja ist in Karl Marx Stadt, dem heutigen Chemnitz geboren und spricht ein paar Brocken Deutsch.
Jasper und Lutz schneiden eine ausladende Stieleiche. Der breite, malerische Wuchs der Baumkrone erstreckt sich weit über die Gräber mit ihren wertvollen Grabmalen. Sie beschließen, die Krone im Feinastbereich vorsorglich zu entlasten. Die leichte Auslichtung im Kronenmantel stellt wegen der Erhaltung der Ästhetik des Baumes in seines wertvollen Umfeldes höchste Ansprüche. Anatolij honoriert unsere Schnitt- und Kletterarbeit mit wohlwollenden Worten.
Später zeigt uns Anatolij einen von ihm sanierten Baum auf dem Friedhof. Er hat bei einer alten Linde das gesamte Faulholz entnommen. Der mächtige Stamm des Baumes ist bis in eine Höhe von ca. 10m vollkommen ausgehöhlt. Die Öffnungen hat er mit zugeschnittenen und entsprechend der Stammform gebogenen Blechen verschlossen. Ein beredtes Beispiel für die hier noch übliche Baumchirurgie.
Anatolijs Leute laden uns später zu einem Abschiedsessen ein. Inmitten der alten, dicht zusammen stehenden Grabsteine wird ein kleines Tischchen gedeckt. Es gibt russischen Gemüsekuchen, Huhn, Brot, Früchte und Tee. Auf den uns umgebenen Grabmahlen befinden sich ganz besondere Ornamente und Innschriften, die einen heiteren, beinahe ironischen Umgang mit dem Tod bezeugen. Die Karikaturen von Totenköpfen, die entweichenden Seelen, die Schlange der Unendlichkeit, ein gebrochener Anker, verbinden sich im Erleben mit der Herzlichkeit unseres Zusammenseins und machen dieses Picknick an diesem ungewöhnlichen Ort zum Höhepunkt der Reise.
In den nächsten zwei Tagen schauen wir uns noch St. Petersburg an und fahren mit Anatolij in die Umgebung, „auf `s Land“.
Am Tag unserer Abreise haben Ludmila und Mascha ein Festessen vorbereitet. Anatolij verteilt Geschenke. Wir stoßen mit Sekt auf die Fortführung des Austauschprojektes an und erarbeiten ein kleines Schriftstück.
Wir planen, Anatolij und „seine Leute“ nach Hamburg einzuladen und danken all den freundlichen Menschen, die wir kennen lernen durften, für die eindrucksvollen und unvergesslichen Tage in St. Petersburg.